Was im Kopf von Kleinkindern passiert: Eine Studie blickt tief ins kindliche Gehirn

by Silke Mayr
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Wie Kinder lernen, ihre Aufmerksamkeit zu steuern

Der zweijährige Henry konzentriert sich voll auf das iPad. Immer wenn ein lachendes Gesicht erscheint, tippt er darauf – es verwandelt sich sofort in ein tanzendes Comic-Tier. Was wie ein Spiel aussieht, ist tatsächlich ein wissenschaftlicher Test, der seine geistige Kontrolle prüft. Henry trägt eine Kappe mit Sensoren, die mit einem großen Analysegerät verbunden ist. Während er spielt, misst die Technik, wie gut er Impulse stoppen und Entscheidungen bewusst treffen kann. Die Forscher der Universität Bristol untersuchen damit gezielt die Fähigkeit zur Selbststeuerung, die im Gehirn gerade heranwächst. Sie wollen herausfinden, wann Kinder beginnen, sich zu konzentrieren, Ablenkung zu ignorieren und gezielt zu handeln. Diese Fähigkeit gilt als zentrale Grundlage für erfolgreiches Lernen. Die Wissenschaft weiß, wie wichtig diese Prozesse sind, doch es bleibt unklar, wann sie sich genau entwickeln. Deshalb beobachten die Forscher Hunderte Kinder zwischen sechs Monaten und fünf Jahren, um den Ablauf dieser geistigen Reifung exakt zu erfassen.


Zwei Studien – eine übergreifende Forschungsreise durch Generationen

Diese Studie ist nicht nur besonders, weil sie Kinder über Jahre hinweg begleitet, sondern auch, weil sie auf einem einzigartigen Forschungsansatz basiert. 300 der beobachteten Kinder haben Mütter, die selbst schon seit ihrer Geburt wissenschaftlich begleitet wurden. Ihre Gesundheitsdaten, Erlebnisse und genetischen Merkmale wurden über Jahrzehnte gesammelt. Nun nutzen die Forscher diese Daten, um Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der Kinder und dem Leben der Eltern aufzudecken. Projektleiterin Dr. Karla Holmboe nennt dieses Forschungsdesign weltweit einmalig. Sie erklärt, dass es ihnen erlaubt, individuelle Entwicklungen mit langfristigen Einflüssen zu verknüpfen. Wer schon im frühen Schulalter Schwierigkeiten hat, trägt diese oft bis ins Erwachsenenalter weiter. Deshalb setzt das Forschungsteam auf frühe Unterstützung – bevor Probleme überhaupt entstehen. Nur wenn man weiß, wann sich welche Fähigkeiten ausbilden, kann man gezielt fördern. Das Ziel ist klar: Kinder sollen genau dann Hilfe bekommen, wenn sie sie wirklich brauchen.


Wie Spiele und Rätsel helfen, das Denken sichtbar zu machen

Im Psychologie-Labor der Universität erleben Eltern und Kinder Forschung als spielerisches Erlebnis. Viele Kinder erhalten zusätzlich MRT-Scans im Alter von sechs Monaten, drei und fünf Jahren. Diese Aufnahmen geben genaue Einblicke in den Aufbau und die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Auch Henry nimmt daran teil – in einem Spiel, das seine Reaktionen testet. Zunächst erscheint das lachende Gesicht immer auf der rechten Seite des Bildschirms. Sobald er sich daran gewöhnt hat, taucht es plötzlich links auf. Jetzt zeigt sich, ob er sich vom Muster löst oder weiterhin automatisch nach rechts tippt. „Wir prüfen, ob er innehält, neu schaut und flexibel reagiert“, erklärt Forschungsassistentin Carmel Brough. Solche Kontrolle ist später in der Schule entscheidend, sagt Dr. Holmboe. „Ein Kind muss lernen, sich zu konzentrieren und Ablenkung auszublenden. Es muss alte Gewohnheiten loslassen, um Neues zu verstehen.“ Im Nebenraum spielt Jackson, ebenfalls zwei Jahre alt, ein Gedächtnisspiel. Eine Forscherin versteckt Sticker in Töpfen und bittet ihn später, sie wiederzufinden. Als Motivation darf er alle behalten, die er findet. „Das Arbeitsgedächtnis hilft uns, kurzzeitig Informationen zu speichern, um Probleme zu lösen“, erklärt Dr. Holmboe. Diese Fähigkeit sei beim Rechnen, Lesen oder auch bei einfachen Alltagssituationen unerlässlich. Sie nennt sie „Bausteine des Lernens“. Die Studie erfasst darüber hinaus auch Sprachentwicklung und Verarbeitungsgeschwindigkeit – also, wie schnell Kinder neue Inhalte aufnehmen.


Alte Daten, neue Erkenntnisse – was Kinder von gestern über die von heute verraten

Die ursprüngliche Gesundheitsstudie startete vor über 30 Jahren mit rund 14.500 Kindern, die zwischen 1991 und 1992 geboren wurden. Ihre Daten halfen dabei, viele gesundheitliche Zusammenhänge zu erkennen – etwa bei Übergewicht, Autismus oder mentaler Belastung in Krisenzeiten. Die Ergebnisse flossen in zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen weltweit ein. Eine Untersuchung zeigte, dass wählerisches Essverhalten bei Kindern meist keine langfristigen Folgen hat. Eine andere entdeckte, dass viele Jugendliche bereits frühe Anzeichen einer Fettleber haben – oft verursacht durch schlechte Ernährung oder Alkohol. Die Daten halfen dabei, geeignete Präventionsstrategien zu entwickeln. Vor Kurzem stellte das Forschungsteam zudem fest, dass Kinder, die selten fetthaltigen Fisch essen, weniger sozial und mitfühlend reagieren. Die neue Phase der Forschung richtet sich jetzt auf die Kinder dieser ersten Generation. Die Forscher begleiten sie bis zum Schuleintritt, um genau zu dokumentieren, wie sich ihre Denkfähigkeiten entwickeln. Henrys Mutter Emily gehörte damals selbst zu den untersuchten Kindern. Heute begleitet sie ihren Sohn durchs Labor, während er Puzzles löst und neue Aufgaben meistert. „Ich bin seit meiner Geburt dabei“, erzählt sie. „Damals war es die Entscheidung meiner Mutter – jetzt entscheide ich selbst. Und ich finde es einfach spannend.“ Dr. Holmboe betont, wie wichtig dieser Beitrag für kommende Generationen ist. „Wenn Kinder in die Schule kommen, ist vieles schon geprägt. Deshalb müssen wir frühzeitig handeln.“ Nachdem Henry und Jackson ihre Spiele beendet haben, nehmen sie die Sensorhüte ab und bereiten sich auf den Heimweg vor. Emily lächelt zufrieden. „Meine Jungs lieben es hier – sie spielen, lachen und bekommen Snacks. Solange sie Freude daran haben, bleiben wir dabei. Warum sollte man nicht Teil von etwas sein, das anderen Kindern später helfen kann?“

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