Ukraine Gesundheitssystem Krise

by Silke Mayr
0 comments
Ukraine Gesundheitssystem Krise: Zerstörte Klinik in der Ukraine mit medizinischem Personal

Angriffe, Personalmangel und steigende Krankheitsraten

Ukraine Gesundheitssystem Krise: Drei Jahre nach der russischen Invasion steht das ukrainische Gesundheitssystem vor massiven Herausforderungen. Ständige Angriffe, überlastetes Personal und wachsende Krankheitsrisiken erschweren die medizinische Versorgung.

Am 8. Juli vergangenen Jahres bereitete Dr. Lesia Lysytsia eine Patientin in der Kinderklinik Okhmatdyt auf eine Augenoperation vor. Plötzlich erklangen Sirenen, die vor einem möglichen russischen Luftangriff warnten.

Lysytsia ignorierte den Alarm. Würden die Ärzte bei jedem Alarm in einen Schutzraum fliehen, könnten sie ihre Patienten nicht versorgen. Zudem musste die 39-Jährige pünktlich zu ihren beiden Kindern nach Hause.

Dann traf eine Rakete Okhmatdyt. Drei Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Es war eine von 40 Raketen, die Russland an diesem Tag auf die Ukraine abfeuerte. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 630 Kinder in der Klinik.

Die durch den Krieg veränderte Hauptstadt Kyiv öffnete Okhmatdyt eine Woche später wieder. “Es ist wie an normalen Tagen”, sagt Lysytsia. “Wir haben uns mental verändert. Doch wir haben ein Ziel und tragen Verantwortung.”

Widerstandsfähigkeit des Gesundheitssystems trotz permanenter Gefahren

Nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 war das ukrainische Gesundheitssystem nicht auf die Massenverletzungen vorbereitet.

Der Krieg verwüstete das Land und löste eine Flüchtlingskrise aus. Die Bevölkerung schrumpfte laut UN um mehr als zehn Millionen Menschen.

“Kein Gesundheitssystem ist auf einen umfassenden Krieg ausgelegt”, erklärt Eric Adrien, der für die EU medizinische Evakuierungen aus der Ukraine koordiniert.

Medizinisches Personal musste sich anpassen. Ärzte führen Amputationen ohne Strom durch und arbeiten unter ständiger Bedrohung. Ein WHO-Bericht bestätigt die Widerstandsfähigkeit des ukrainischen Gesundheitssystems, das 2017 modernisiert wurde.

Doch drei Jahre nach Kriegsbeginn bestehen große Unterschiede zwischen den Frontregionen im Osten und dem vergleichsweise sicheren Westen. Hinzu kommen Infektionskrankheiten, Antibiotikaresistenzen und ein anhaltender Mangel an medizinischem Personal.

“Wer heute von Lwiw nach Kyiv reist, könnte denken, das Land habe sich an den Krieg gewöhnt”, sagt Dr. Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen. “Doch in den Ostregionen sieht es anders aus.” Er spricht aus Berlin und beschreibt die Zukunft als “eher düster als hoffnungsvoll”.

Zerstörung von Gesundheitseinrichtungen verschlechtert die Lage – Ukraine Gesundheitssystem Krise

Seit 2022 haben russische Truppen mehr als 1.760 Angriffe auf Krankenhäuser, Kliniken, Rettungswagen und medizinisches Personal verübt. Laut WHO ist die Zahl sogar noch höher.

Diese Angriffe erschweren die Versorgung von Patienten mit Kriegsverletzungen, chronischen Krankheiten und Infektionen. Seit dem Angriff auf Okhmatdyt gab es mindestens 41 weitere Attacken auf medizinische Einrichtungen. Allein im Januar 2024 wurden zwei Zentren zerstört.

Letzte Woche, kurz nach Friedensgesprächen zwischen Russland und den USA in Saudi-Arabien, traf eine Rakete eine Kinderklinik in Odesa.

“Es war eine der besten im Land. Und innerhalb einer Nacht existiert sie nicht mehr”, sagt Inna Ivanenko, Direktorin der Organisation Patients of Ukraine.

Die Angriffe führen dazu, dass Millionen Ukrainer keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Laut einer Umfrage können 16 Prozent der Haushalte keine Behandlung erhalten, da Einrichtungen zerstört oder Personal nicht verfügbar ist.

Besonders in den Frontgebieten ist der Gang ins Krankenhaus lebensgefährlich. In den besetzten Gebieten wie Donezk, Luhansk und der Krim sind nur wenige Informationen verfügbar. Hilfsorganisationen befürchten das Schlimmste.

Ausbreitung von Krankheiten als Zeichen eines kollabierenden Systems

Die Ukraine hat ein hohes Risiko für geschlechtsbasierte Gewalt, Masern, Atemwegserkrankungen, Tuberkulose, HIV und Kriegsverletzungen.

Tuberkulose ist in der Ukraine seit den 1990ern ein Problem. Die Fallzahlen stiegen 2022 und 2023 weiter an. Die Ukraine gehört zu den 30 Ländern mit einer hohen Belastung durch multiresistente Tuberkulose.

“Tuberkulose, HIV und Hepatitis sind Anzeichen eines kollabierenden Gesundheitssystems”, sagt Stöbe. “Die Zahlen steigen, und niemand bemerkt oder kümmert sich darum.”

Der Krieg hat die Fortschritte bei HIV stark beeinträchtigt. Sexarbeit und Drogenkonsum nehmen in Kriegszeiten zu, was das Infektionsrisiko erhöht.

Ein Bericht ergab, dass Notaufnahmen stark ausgelastet sind, während andere medizinische Angebote zurückgefahren wurden. Dazu gehören Krebsvorsorge, Laboruntersuchungen, Apothekenservices, gynäkologische Versorgung und Telemedizin.

“Mehr Krebserkrankungen werden in späteren Stadien diagnostiziert”, erklärt Anna Uzlova, Leiterin der Krebshilfe Inspiration Family. Die psychische Belastung sei ebenfalls gestiegen.

Personalmangel als langfristige Herausforderung – Ukraine Gesundheitssystem Krise

Viele medizinische Fachkräfte haben die Ukraine verlassen, sind in Rente gegangen oder wurden getötet. 262 medizinische Mitarbeiter verloren bereits ihr Leben.

Während Kyiv noch ärztliches Personal hat, fehlt es an Fachkräften in den Frontgebieten. Besonders problematisch ist der Mangel an Krankenschwestern.

“Wenn die Region heftig bombardiert wird, verlassen Ärzte häufig das Gebiet”, sagt Dr. Yevheniia Poliakova aus Saporischschja. “Doch viele kehren nach ein paar Monaten zurück.”

Pflegekräfte hingegen bleiben oft im Ausland, da sie dort schneller Arbeit finden.

“Wir wollen ruhig und mutig sein”, sagt Dr. Lysytsia. “Doch tief in unserer Seele haben wir alle Angst.”

Die Ukraine kann ihr Gesundheitssystem nur durch internationale Unterstützung aufrechterhalten. Doch die Zukunft bleibt ungewiss.

“Es gibt viele Probleme”, sagt Ivanenko. “Doch das System hat überlebt. Das zeigt, wie stark es gebaut wurde.”

You may also like