Eine neue App mit künstlicher Intelligenz (KI) hat die Wartezeit für Rückenschmerz-Behandlungen um 55 Prozent reduziert. Im Rahmen eines dreimonatigen NHS-Projekts testeten Patientinnen und Patienten in Cambridgeshire und Peterborough die digitale Lösung. Entwickelt vom Cambridgeshire Community Services NHS Trust, übernimmt die App eigenständig die Ersteinschätzung, die Therapie und die Entlassung. Durch die Automatisierung wurden rund 2.500 Stunden medizinischer Fachzeit für komplexere Fälle freigemacht.
Rückenschmerzen dominieren den Praxisalltag
Jayne Davies, klinische Leiterin für muskuloskelettale (MSK) Behandlungen, beschreibt die Herausforderung deutlich. „Ein Drittel unserer Fälle betrifft Rückenschmerzen – wir kommen an unsere Grenzen“, sagte sie. Sie sieht die App als echten Fortschritt: „Richtig eingesetzt, kann sie die Versorgung verbessern und gleichzeitig das System entlasten.“ Ihrer Meinung nach sei es derzeit unmöglich, genug Personal auszubilden oder einzustellen, um die steigende Nachfrage zu decken.
Erste offiziell zugelassene Therapie-App mit KI
Die App stammt vom Start-up Flok Health aus Cambridge. Sie ist die erste KI-Therapie-App, die eine Zulassung durch die britische Aufsicht für Pflegequalität erhalten hat. Rund 80 Prozent der Erwachsenen leiden laut NHS im Laufe ihres Lebens an Rückenschmerzen. MSK-Erkrankungen zählen zu den Hauptursachen für Arbeitsausfälle und Behinderungen. Aktuell liegt die Wartezeit auf einen MSK-Termin bei über 18 Wochen.
Digitale Behandlung überzeugt durch einfache Nutzung
Annys Bossom aus Brampton war eine von etwa 2.500 Personen, die an der Testphase teilnahmen. Seit 25 Jahren leidet sie unter Rückenschmerzen, verursacht durch ein verdrehtes Becken und Hypermobilität. „Anfangs war ich enttäuscht über die App, aber nach dem ersten Training war ich begeistert“, sagte sie. Die Übungen waren neu, hilfreich und motivierend. „Die Anleitungen per Video funktionierten für mich besser als gedruckte Zettel.“ Sie lobte auch die Möglichkeit, die Trainingszeiten flexibel selbst zu bestimmen.
Therapie ohne Verzögerung – auch bei akuten Beschwerden
Sharon McMahon, Grundschullehrerin aus Hardwick, musste wegen starker Rückenschmerzen zwei Wochen pausieren. Nach 17 Wochen Wartezeit erhielt sie Zugang zur App. „Ich begann noch am selben Tag mit den Übungen“, sagte sie. Sie konnte sich die Einheiten frei einteilen – und war nach wenigen Wochen wieder beschwerdefrei.
KI analysiert Beschwerden und erstellt individuelle Programme
Die App beginnt mit einem digitalen Fragebogen zur Schmerzbewertung. Auf Basis der Angaben erstellt sie einen personalisierten Trainingsplan. Die Übungen werden von Kirsty Henderson vorgemacht, einer erfahrenen Physiotherapeutin mit 15 Jahren Berufserfahrung. Der Zugang zur App erfolgt über Selbstanmeldung oder ärztliche Überweisung zur digitalen Flok-Klinik.
Studie zeigt klare Vorteile für das Gesundheitssystem
Die Ergebnisse der Pilotphase sprechen für sich: 80 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer bewerteten die App als gleichwertig oder besser als persönliche Behandlung. 98 Prozent konnten vollständig digital behandelt und entlassen werden. Nur zwei Prozent wurden an eine Präsenztherapie weitergeleitet. Monatlich wurden 856 Stunden ärztlicher Zeit eingespart. Die durchschnittliche Wartezeit für MSK-Behandlungen sank von 18 auf unter 10 Wochen. Die Zahl der wartenden Rückenschmerz-Patienten reduzierte sich um 55 Prozent.
Künstliche Intelligenz braucht Transparenz und Vertrauen
Trotz der Erfolge bleiben Bedenken. Eine Studie der Health Foundation aus dem Jahr 2024 zeigte, dass jede sechste Person KI in der Medizin kritisch sieht. Hauptsorgen betreffen Datenschutz und mangelnde Kontrolle über die Trainingsdaten. Die Stiftung fordert mehr öffentliche Einbindung, wenn Technik dauerhaft Teil des Gesundheitssystems werden soll.
Physiotherapie bleibt unersetzlich
Kirsty Henderson glaubt nicht, dass KI den Beruf ersetzt. „Manche Menschen brauchen persönliche Betreuung – das wird sich nicht ändern“, sagte sie. Die App ermögliche aber mehr Zeit für schwerere Fälle. „Der Druck auf das NHS war enorm – digitale Lösungen können hier helfen.“
Eigene Rückenschmerzen führten zur Idee
Finn Stevenson, Mitgründer von Flok Health, entwickelte die App aus eigener Erfahrung. Nach seiner Sportkarriere als Ruderer wartete er lange auf eine Behandlung. „Im traditionellen System fehlt es einfach an Fachkräften“, sagte er. „Unsere App fühlt sich an wie ein Videogespräch mit einer echten Therapeutin.“
Fachverband fordert klare Regeln für KI
Der britische Verband für Physiotherapie unterstützt digitale Lösungen, warnt aber vor zu schneller Umsetzung. Ash James, Leiter für Praxisentwicklung, spricht von einer Versorgungskrise. „Die Nachfrage ist groß, aber vielerorts gibt es Einstellungsstopps im NHS.“ Er betont: „Rückenschmerzen lassen sich mit Anleitung oft selbst behandeln – Technik kann helfen, wenn sie sicher ist, ärztlich begleitet wird und Fachwissen berücksichtigt.“
Menschliche Kontrolle bleibt unverzichtbar
Flok Health hat Mechanismen eingebaut, um bei ungewöhnlichen Antworten sofort eine Fachkraft zu benachrichtigen. In solchen Fällen erfolgt ein Rückruf. Auch Nachrichten zwischen Patientinnen und Therapeutinnen sind über die Plattform möglich. Kirsty Henderson war zunächst skeptisch, ob die App Schmerzbeschreibungen wirklich verstehen kann. Heute sagt sie: „Sie erkennt mehr, als ich erwartet hätte – aber wir müssen bereit sein, sofort einzugreifen, wenn etwas nicht stimmt.“